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Den Atem der Welt herein lassen

Ein neues Stück von Dea Loher eröffnet die Spielzeit: «FRAU YAMAMOTO IST NOCH DA». Über eine lange Arbeitsbeziehung und eine einzigartige Autorin.

Porträt über Dea Loher
von Tobi Müller
(erschienen im Magazin des Schauspielhaus Zürich)

In der vorletzten Szene von FRAU YAMAMOTO IST NOCH DA spielt eine Kneipe eine Rolle, ein niederschwelliger Ort des Zusammenkommens. Der Hauptschauplatz davor ist ein Wohnhaus, in dem, wie in jeder Grossstadt, die Vereinzelten auftreten, zum Beispiel ein männliches Paar und ihr Neffe. Und die über 70-jährige, einsame, aber nicht zwingend traurige Frau Yamamoto, die das solistische Prinzip des Hauses durch ihre Präsenz und ihre biografischen Erzählungen in Frage stellt. Die Kneipe am Schluss zeichnet zumindest die Umrisse einer Utopie (die nicht allen passt).

[Autorin Dea Loher © Cordula Treml]

Innerhalb des Werkes von Dea Loher überrascht diese Möglichkeit der Vereinzelungs-Überwindung. Lohers Texte handeln sonst mal tragisch, mal komisch davon, dass die Menschen auseinanderfliegen wie Dinge im Wind, oder wie die Erinnerungen an die Geschichte und an die Kindheit. Nichts bleibt, wie es ist. Aber in diesem Theaterstück, ihrem ersten seit acht Jahren, kommt vielleicht am Ende wieder etwas zusammen. Was ganz sicher wieder zusammenfindet: die lange Arbeitsbeziehung zwischen Dea Loher und Ulrich Khuon, der das Schauspielhaus ab August ein Jahr lang leiten wird.

Es waren die grossen Fragen, die den Intendanten Khuon und die Stückeschreiberin Loher früh miteinander verbanden. Schuld, Gewalt, Einsamkeit – in der Familie, im Krieg, in den Städten. Die Leichtigkeit, der Humor, die Komödie kamen später dazu. Sie: in einem bayerischen Försterhaus aufgewachsen, in Brasilien umhergereist, bei Heiner Müller in Berlin szenisches Schreiben studiert. Er: in Konstanz gross geworden, in Freiburg Theologie studiert, bevor er Theaterleiter wurde – vom Bodensee über Hannover und Hamburg bis Berlin. Sie und Er, das könnte der Titel eines Theaterstückes von Botho Strauss sein.

[Dea Loher und Ulrich Khuon beim Schiffbaufest 2024 © Arno Declair]

Wenn Dea Loher von Ulrich Khuon erzählt, klingt es tatsächlich fast wie erfunden. Sie traf ihn Anfang der Neunziger, als sie erst zwei Stücke geschrieben hatte. Loher war 28 Jahre alt und «Uli fragte mich, ob ich mir vorstellen könne, das nächste Stück für das Staatsschauspiel Hannover zu schreiben. Die zweite Zusammenarbeit sollte dann bereits für die grosse Bühne sein!» Damals gab es noch kaum Festivals für Theaterstücke und noch keine «Autor*innen-Förderungswelle, in der alle Häuser wie wild Aufträge an junge Dramatiker*innen verteilten.» Es war (und ist) nicht selbstverständlich, was Loher über Khuon bemerkt: «Und er liest. Er liest sehr viel.» Man könne mit ihm deshalb lange über die literarische Qualität von Stücken reden, so Loher.

In der ersten Hälfte von Lohers Werk dominiert ein dunkler Ton. Im Erstling OLGAS RAUM (1992) geht es um eine Kommunistin im Nationalsozialismus, Inzest ist das Thema im viel gespielten Stück TÄTOWIERUNG. Und in FREMDES HAUS holt das gewaltige Ende Jugoslawiens auch das Selbstverständnis der Exilierten ein. Schuld oder UNSCHULD, wie ein späteres Stück von Loher heisst, sind bei ihr wechselnde Gestalten der gleichen Figuren.

Dass die Unterscheidung schwerfällt, gehört zum Kern der Gattung der Tragödie, auch wenn bei Loher keine Götter mitmischen und auch kein weltliches Gesetz. Sie schreibt also weder antike Tragödien noch bürgerliche und noch nicht einmal naturalistische. Es sind manchmal schroffe Szenenbögen, in denen Spalten klaffen. Stationendramen, wie oft geschrieben wurde. Aber es gibt zwei Merkmale bei Loher, die in der zeitgenössischen Dramatik oft fehlen. Zum einen rahmen oft Orte das Geschehen und halten es räumlich im Zaum. Zum anderen schreibt sie ausgefeilte Dialoge, selten Monologe und nie Textflächen. Dea Loher will (post-)moderne Menschen zum Sprechen bringen, aber auf den alten Konfliktkomplex der Schuld nicht verzichten.

[Nikola Weisse als Frau Yamamoto, Probenfoto © Alex Bunge]

Mit DIEBE gelang ihr im Herbst 2010 ein weiterer Hit. Ulrich Khuon leitete gerade mal ein Jahr lang das Deutsche Theater in Berlin, die Kritik und auch Teile des Publikums hatten es ihm schwergemacht, dem erfolgsverwöhnten Intendanten, der von Hamburg in die deutsche Hauptstadt kam. Die DIEBE-Inszenierung von Regisseur und Bühnenbildner Andreas Kriegenburg ging durch die Decke und blieb ewig im Repertoire. Es war auch die letzte Aufführung der vierzehnjährigen Berliner Ära von Ulrich Khuon, die im Juni 2023 endete. FRAU YAMAMOTO IST NOCH DA erinnert manchmal an DIEBE, als würde das ältere Stück durch die Seiten des neuen sanft hindurchschimmern.

«Ich bin nicht wie Sie, wir sind verschieden»: Solche Sätze kehrten in DIEBE wieder, das lose Figurenarsenal begegnete sich in der Abgrenzung. Aber die einzelnen Geschichten liefen einander über den Weg. Vierzehn Jahre später gibt es in YAMAMOTO noch weniger Berührungen, als wäre die Vereinzelung weiter fortgeschritten. Am stärksten dagegen wehrt sich die alte Frau im Titel, und zwar, indem sie ihre Haustür immer einen Spalt offenstehen lässt, oder, Frau Loher? Ihre Antwort:

«Die Vereinsamung der Figuren ist seit DIEBE noch weiter fortgeschritten, ja. Abgrenzung ist noch wichtiger geworden, gleichzeitig lässt sich das trotzdem bestehende Bedürfnis nach Beziehungen, Freundschaft, Liebe immer weniger einlösen. Die Scheu vor Konflikten ist grösser geworden und noch grösser die Hemmung und Angst davor, sich eine Verantwortung aufzubürden oder überhaupt noch irgendeine Initiative zu ergreifen, geschweige eine Verpflichtung zu übernehmen.» Nun kommt die Autorin in Fahrt und führt fast alle Figuren des Stückes auf, um auf deren Kontaktangst mit der Wirklichkeit hinzuweisen:

«Erik, der nicht mal die alte Nachbarin einladen will aus Sorge, sie womöglich nicht mehr loszuwerden. Ein Mann, der lieber Liebesgedichte an eine fiktive Frau schreibt, als mal mit einer auszugehen. Die Frau am Fenster, der es von ihrer Freundin auf kuriose Weise ausgeredet wird, wenn sie sich um ihren verwahrlosten Nachbarn kümmern will. Der Mann, der sich lieber aushalten lässt, als eine Freundin auf Augenhöhe zu finden. Die Frau, die ihre kranke Mutter vorschiebt, um nicht mit ihrem Freund zusammenziehen zu müssen …»

Frau Yamamoto dagegen: lässt die Tür offen. Damit Durchzug entsteht, der Atem der Welt hereinkommt – die Stimmen der anderen, der Freude, aber auch die Kunde von den Katastrophen.

[Ensemble in FRAU YAMAMOTO IST NOCH DA © Alex Bunge]

Der Weg von DIEBE zu YAMAMOTO ist nur eine Spur der Zeit. Vieles ist total anders. Zwei grosse Unterschiede: Früher hatte Andreas Kriegenburg alle grossen Stücke inszeniert, in Zürich heisst die Regisseurin nun Jette Steckel, eine erfahrene und bildstarke Künstlerin; und FRAU YAMAMOTO IST NOCH DA wird am gleichen Tag wie in Zürich vom Engeki Ensemble in Tokio uraufgeführt. Ist das nun, kulturell gefragt, ein japanisches Stück in der Deutschschweiz, oder ein deutschsprachiges in Japan? Vielleicht trifft beides zu, Loher kann es nicht eindeutig beantworten. Interkulturelle Begegnungen handeln auch vom Nichtwissen, von der Fähigkeit, das Unbekannte zuzulassen und nicht gleich mit Projektionen aufzufüllen.

Lohers Beziehung zum japanischen Theater geht nicht ganz so weit zurück wie jene zu Ulrich Khuon. Aber auch da fällt ihre Sehnsucht nach Kontinuität auf. Vor 15 Jahren hatte Toshiki Okada TÄTOWIERUNG in Tokio inszeniert (Okada arbeitet heute regelmässig an deutschen Häusern). Loher erinnert sich: «Etwas später kam der Regisseur vom Engeki Ensemble, Yoshinori Koke, nach Berlin und wollte mich treffen. Als erstes schenkte er mir eine sehr grosse Flasche slowenischen Birnenschnaps; das fand ich ziemlich lustig.» Ob das bei der Verständigung half? Jedenfalls konnte Koke kein Englisch, und Loher kein Japanisch. YAMAMOTO ist Lohers Stück zum 70. Jubiläum des Engeki Ensembles, und viele Stücke von ihr wurden von unterschiedlichen Gruppen in Japan umgesetzt.

Liegt das interkulturelle Potential ihrer auch im Ausland gespielten Stücke an der reduzierten Sprache, die in den Lücken viel Platz lässt – für das diverse Publikum, für die Fantasie der Regisseur*innen? Andreas Kriegenburg hat jeweils mächtige Zeichen und Bühnen geschaffen, als wollte er Dämme bauen für Lohers fliessende Szenen. Jette Steckel inszeniert anders, ihre Ästhetik ist noch räumlicher, immersiver. Steckel und Loher arbeiteten schon einmal zusammen, aber eine «grosse Uraufführung» war noch nicht dabei. Vielleicht der Anfang einer weiteren Langzeitarbeitsbeziehung?

Die letzte Frage ist nicht zu verkneifen: Warum acht Jahre kein Stück fürs Theater? Lohers Antwort wirkt japanisch cool, oder eher herkunftsbayerisch direkt, oder doch schon wie Berliner Patzigkeit, die kurz zwinkert im Auge? Jedenfalls antwortet sie: «Ich hatte alles gesagt, was ich sagen wollte.»

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Der Text erschien im MAGAZIN des Schauspielhaus Zürich am 31. August 2024. Das Heft liegt zur kostenfreien Mitnahme in den Foyers des Theaters aus.