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Geschichte einer stabilen Erosion

Begleittext zur Produktion «PEIDEN»

von Mariano Tschur

Wer bin ich? Woher komme ich? Wohin gehe ich? So einfach die Fragen auch klingen: Sie gehen an die Substanz des Menschen, wühlen alles auf. Die Folgen sind ungewiss, wie der Verlauf eines Lebens. Wird man aufgefressen oder kommt man davon? In Fröhlichkeit heiter weitermachen oder in den Schatten der Abendstunden darben? Als Flaneure chic durch Alleen stolzieren oder als Getriebene in den Gassen verzweifeln? Ob dieser oder jener Weg eingeschlagen wird: Die Sehnsucht nach Geborgenheit ist allen gemein.

Cla Biert hat es vorgemacht (La Müdada), Flurin Spescha (Das Gewicht der Hügel), Leo Tuor (Giacumbert Nau), Arno Camenisch (Der Schatten über dem Dorf) ebenfalls. Weitere Namen von Autorinnen und Autoren aus Graubünden – und aus anderswo – könnten leicht hinzugefügt werden. Nun folgen Roman Weishaupt, Bruno Cathomas, Rafael Sanchez und Duri Bischof. Nicht mit einem Buch, sondern mit einem Theaterprojekt, genauer: «Ein Monologabend». Im Blickfeld steht genau die eine grosse Frage: «Wer bin ich?». Sie wird von allen Menschen in allen Zeiten und Generationen immer wieder gestellt.

2001 kommt es in Laax zur Theateraufführung von Wedekinds «Frühlings Erwachen» in einer romanischen Fassung von Rita Cathomas-Bearth «Ei catscha primavera». Gespielt wird in einer Scheune, drei Schritte von der Kirche entfernt. Die Proben an diesem Stück über eine pubertierende Jugend weckte die öffentliche Neugierde: Es gehe um Sexualität, hiess es hinter vorgehaltener Hand, präziser, um Schwule.

Das biedere, verlogene Milieu der erwachsenen Welt im Theaterstück fand sein Gegenüber in der realen Welt. Bruno Cathomas, damals 36-jährig und erfolgreicher Schauspieler, spielte den vermummten Herrn, reiste aus Basel oder Berlin zu den Aufführungen an. Roman Weishaupt, 22-jährig, Lehrer, liess sich überzeugen, einen der Herren zu spielen und verliebte sich in das Theater. Ein Jahr später begann er die Ausbildung zum Theaterpädagogen in Zürich.

Für Bruno war dieser Auftritt so etwas wie ein Dankeschön an die «Cumpagnia da teater Laax», in der er 20 Jahre zuvor seine Emanzipation begonnen hatte. Darüber hinaus war es auch der Versuch einer Annäherung an das Dorf seiner Jugendzeit, das er mit Wut und Schmerz verlassen hatte und das für alles stand, was er ablehnt, ja verabscheut: Heuchelei, Lüge, Doppelbödigkeit, Intoleranz, Repression. In Zeitungsinterviews und Talkshows hatte er sich in derber Sprache über das Dorf – und damit über ein System, das weltweit in miefen Gesellschaften anzutreffen ist – ausgelassen. Die Kritik und seine ungeschminkte Offenheit kamen – wen wundert’s – nicht gut an. Nun ist er – 2001 – zurück und spielte den vermummten Herrn, der als «Deus ex machina» am Ende des Stückes von «Frühlings Erwachen» in einem einzigen Auftritt dem Tod ein Schnippchen schlägt und der ganzen Mühsal einen Sinn gibt. Bruno wird gefeiert: Der Star, dem alle an der Premierenfeier auf die Schulter klopfen und mit geschwellter Brust posaunen «In dils nos» (einer von uns), duckt sich einmal mehr, zieht seinen grossen Kopf in seinen massigen Körper ein, traut der Sache nicht ganz. «Versteht ihr mich? Könnt ihr nachvollziehen, wie ich denke und wofür ich einstehe?». Auch bei mehr als nur einem Bier mit Schulkameraden lassen sich Verletzungen – oder sind es Projektionen? – nicht aus der Welt schaffen.

Er kommt ein weiteres Mal zurück, 2009, und legt sich enorm ins Zeug. Das ganze Dorf folgt ihm bei den Proben zu Shakespeares «Sommernachtsraum» in der Übersetzung von Leo Tuor «In siemi dalla notg sogn Gion», das als Freilichtspiel am Laaxer See aufgeführt wird. Mit voller Wucht treibt er die Leute zum Spiel an, setzte seine ganze Körperlichkeit ein, die bei aller Kraft so viel Zärtliches und Fragiles hat. Er begeistert mit seiner Regiearbeit Spieler und Publikum und hält – nicht ganz unkokett – nach den Vorstellungen Hof. Pardon, es ist mehr als das. Er ist auf Mission: «Geht euren eigenen Weg, fragt nach, passt euch nicht an.» Kaum einer wagt zu entgegnen, die Jungs schon gar nicht, die anderen scheitern kläglich in ihrem Versuch, mit Sprüchen zu punkten.

Bruno – so schien es mir – war ungemein gereift. Mehr als er sich je hätte träumen lassen. Als 16-Jähriger rannte er ständig davon, am meisten vor sich selbst, buhlte um Anerkennung, wollte nicht nur als Spassvogel wahrgenommen werden. Später – als er an der Volksbühne in Berlin tätig war – konnte er durchaus schnoddrig abgehoben wirken. Nun stand er – als bald 50-Jähriger – liebevoll vor einer versammelten Spielschar und sprach Liebesworte über die schöne romanische Sprache, den schönen romanischen Gesang, über die tollen schauspielerischen Leistungen der Laiendarsteller. «Ist Bruno angekommen?», fragte ich mich. «Macht er gerade Frieden mit sich selbst und mit seiner Jugendzeit?»

Wohl kaum. Die Energiequelle von Künstlern ist nicht die Anpassung, nicht die Bejahung. Künstler, die im lauwarmen Wasser des Allgemeinen suhlen, geben sich auf. Ihr Dienst mag wohlgemeint sein, ist aber bald vergessen.

Mit dem Projekt «Peiden» setzen sich Bruno Cathomas und das Team vom Theater Chur erneut mit dem Spannungsbogen «Bleiben» oder «Gehen» auseinander. Vielleicht muss die Ausgangslage gar nicht so radikal sein: Lebenskünstler zeigen, dass es durchaus Schnittmengen zwischen den Polen «Hier» und «Dort» gibt. Die Herausforderung liegt wohl darin, sich im «Hier» nicht in Depression abzugleiten und im «Dort» nicht in Melancholie zu verharren.

Den Bewohnern der Alpenregionen wird eine besondere Eigenschaft zugesprochen: Heimweh. Es gibt Bündner, die behaupten, beim Verlassen der Tardisbrücke würden sie die erste Träne vergiessen. Andere sagen, «Stadtluft» macht frei. Beides, Heimweh und Fernweh, sind Stereotypen, nicht nur in der Literatur gut einsetzbar, sondern auch im Marketing.

Der Anspruch an das Projekt «Peiden» muss ein anderer sein: die Erosion. Dafür steht das Dorf am Hang im vorderen Teil der Lumnezia: Es rutscht weg. Der Hang gibt nach, die Häuser haben Risse, die Fundamente brechen ein. Diese Metapher, am Beispiel der Biographie von Bruno Cathomas und seiner Vorgeneration, die in Peiden-Bad das Kurhaus führte, muss weit über die Frage nach den Wurzeln hinausgehen. Ja, selbst weit über die Frage nach unseren vielen Identitäten, die nicht immer zusammen zu bringen sind.

Das Wegbrechen von Stützen, von tatsächlicher oder vermeintlicher Sicherheit, von Orientierungspunkten und Beziehungen macht den Menschen krank, lebensmüde. Bruno Cathomas kennt aus Erfahrung und Anschauung den Schmerz des Wegbrechens. Seine Biographie zeigt, wie sich ein Mensch – und Künstler! – mal behutsam, mal exzessiv – den Erosionen des Lebens stellt.

(Der Text erschien im Februar 2022 im Magazin des Theater Chur.)

Peiden

Ein Abend von und mit Bruno Cathomas
Zürich-Premiere
Termine: 28.9., 6.10., 3.11.| Pfauen