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Mit VR-Brille ins Burghölzli: Tauchgang in ein ausgelöschtes Leben

Als «hysterische» Patientin und Geliebte von C. G. Jung im Burghölzli ging sie in die Geschichte ein. Dass sie als Psychoanalytikerin Pionierarbeit geleistet hat, ist wenig bekannt. Eine virtuelle Inszenierung ermöglicht dem Publikum die Begegnung mit Sabina Spielrein.

«Das muss man sich mal vorstellen: Sabina Spielreins Dissertation an der Uni Zürich war die erste, die ins Jahrbuch der Psychoanalyse aufgenommen wurde. Noch im selben Jahr, 1911, wurde sie Mitglied der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung – als einzige Frau unter älteren Männern. Sabina forschte unter anderem am Institut Jean-Jacques Rousseau in Genf, war die Lehranalytikerin von Jean Piaget, publizierte, referierte auf Fachkongressen und wurde Leiterin der Kinderpsychologie an der Universität Moskau. Damals hatte sie einen Namen. Aber der wurde ausgelöscht.» Wenn Alexandra Althoff liebevoll von «Sabina» spricht, denkt man, sie rede über eine Freundin, der Unrecht widerfahren ist und der sie endlich zur verdienten Anerkennung verhelfen möchte. Ganz falsch ist das nicht. Es sei typisch für eine Frauenkarriere und ein Frauenschicksal dieser Zeit, dass Sabina Spielreins Name in Vergessenheit geraten ist. Um ihr nahezukommen, hat das auf virtuelle Inszenierungen spezialisierte Künstler*innenkollektiv RAUM+ZEIT, das Alexandra Althoff 2009 zusammen mit Bernhard Mikeska und Lothar Kittstein gegründet hat, «möglichst viel gelesen und gesehen, was es von und über Sabina Spielrein gibt: Spielfilme, Biographien, Artikel, ihre Tagebücher und ihrer Korrespondenz».
Auch die psychiatrische Klinik Burghölzli, wo Sabina Spielrein zuerst Patientin und später Ärztin war, haben die Theaterleute besichtigt. «Wir liefen über dieselben Holzböden wie sie, sprachen mit Paul Hoff, einem Exper- ten für Psychiatriegeschichte, und eine junge Patientin brachte ihre Perspektive in unser Gespräch ein. Das war eindrücklich.»

Tatsächlich lässt sich Sabina Spielreins Geschichte vom Burghhölzli aus, diesem schlossartig angelegten Klinikbau auf einem Hügel am Zürcher Stadtrand, gut ausrollen. 1904 tritt die damals 18-Jährige in die «Irrenheilanstalt» ein, nachdem sie in einem noblen Hotel randaliert hatte. Die Diagnosen: Hysterie, Verdacht auf Paranoia und Suizidgefährdung. «Viele stigmatisierte Krankheiten wurden ihr seitdem von Biografen zugeschrieben, auch Schizophrenie und Borderlinestörung», weiss Alexandra Althoff. «Neuere Biografien wie diejenige von Sabine Richebächer gehen hingegen davon aus, dass Sabina die Einweisung selbst provozierte, um von ihren Eltern loszukommen und Hilfe zu suchen.»

Denn die Erziehung in der wohlhabenden und gebildeten jüdisch-russischen Familie ist streng: Die fünf Kinder müssen neben Jiddisch und Russisch auch Deutsch, Französisch und Englisch lernen und dürfen sich an einzelnen Wochentagen nur in einer bestimmten Fremdsprache unterhalten. Wer aufmuckt, wird vom Vater auf den nackten Hintern geschlagen. «Immer scheint es mir, dass Papa kommt und ich fahre zusammen», schreibt Sabina Spielrein in ihr Tagebuch. Als die kleine Schwester Emilia mit sechs Jahren an Typhus stirbt, bleibt für Spielreins tiefe Trauer wenig Platz. Das Verhalten der 16-Jährigen wird immer auffälliger.

Im Burghölzli geht es Sabina Spielrein rasch besser. Der Direktor Eugen Bleuler ist der «neuartigen Redekur» Sigmund Freuds gegenüber aufgeschlossen und beauftragt seinen jungen Assistenzarzt Carl Gustav Jung, die Behandlung der neuen Patientin zu übernehmen.

Das Umfeld, die Gesprächstherapien und die Trennung von den Eltern tun der jungen Frau gut: Sie wird ernst genommen und in ihrem wissenschaftlichen Eifer bestärkt. Mit der Zeit unterstützt Sabina Spielrein Jung bei Untersuchungen vo Patient*innen und hilft ihm bei seiner Habilitation. Bald fasst Sabina Spielrein genug Selbstvertrauen, um ihren Wunsch, Ärztin zu werden, vorzubringen. Mit Bleulers Unterstützung schreibt sie sich im Frühling 1905 an der medizinischen Fakultät der Universität Zürich ein, bleibt aber zunächst im Burghölzli.

Dort verliert der verheiratete Jung bald jede therapeutische Distanz und beginnt eine Liebesbeziehung mit seiner Patientin. Sabina Spielrein ist sein «psychoanalytischer Schulfall». Er macht sich einen Namen, schreibt über sie und übernimmt ihre Ideen, ohne das transparent zu machen. Sabina Spielrein notiert über ihre Beziehung: «Überhaupt brachte mir meine Liebe fast lauter Schmerz, es waren nur einzelne Augenblicke, da ich an seiner Brust ruhte, in welchen ich alles vergessen konnte.» Sie wendet sich schliesslich hilfesuchend an Siegmund Freud, der jedoch nur Jung Glauben schenkt. Dieser verleugnet zunächst seine Affäre und unterstellt Sabina Spielrein Rachegelüste, voller Angst vor Freuds väterlichem Zorn. Doch auch als Sabina Spielrein Freud die Liebesbriefe ihres Arztes zum Beweis schickt, bleibt Freud gelassen. Er kenne die Gegenübertragung aus eigener Erfahrung: «Ich war einige Male nahe daran und hatte a narrow escape», schreibt er verständnisvoll an Jung.

Mit der VR-Inszenierung Doktor Spielrein möchte RAUM+ZEIT Sabina Spielrein aus dem Schatten ihrer Kollegen holen und ins Zentrum stellen. Es solle aber keine Nacherzählung ihrer Biografie geben, sondern ein Versuch, sich gegenüber den Übervätern zu behaupten, so Alexandra Althoff. «Lange Zeit wurde Sabina als Verführerin, Hysterikerin und Zwietracht-Säherin zwischen Jung und Freud angesehen, später als Opfer einer missbräuchlichen Arzt-Patientin-Beziehung.» Dass sie 30 Jahre lang erfolgreich als Psychoanalytikerin und Ärztin gearbeitet und geforscht hat, rücke erst durch die Forschungen von Autorinnen wie Sabine Rickebächer in den Fokus.

Während der Vorstellungen werden die Zuschau-er*innen einzeln durch die Installation geführt. Sie betreten nacheinander mehrere Räume, virtuelle wie reale. In den realen Räumen treffen sie auf Schauspieler*innen (Julia Jentsch, Tabita Johannes, Maximilian Reichert), während sie in den virtuellen über eine VR-Brille in voraufgezeichnete Situationen eintauchen. Dennoch sind die Erfahrungen auch dort individuell: «Es sind 360-Grad-Aufnahmen, die Zuschauer*innen können sich in alle Richtungen bewegen. Die unterschiedlichen Blickrichtungen und Interaktionen machen das Erlebte einzigartig», so Alexandra Althoff. In den Arbeiten von RAUM+ZEIT verwischen die Grenzen zwischen realer Situation und Fiktion, zwischen Betrachtenden und Darstellenden. Das Ensemble spricht die Zuschauer*innen in der Eins-zu-Eins-Situation direkt an. «Man kommt Sabina Spielrein, aber auch Jung und Freud sehr nahe.»

Eine VR-Inszenierung zu realisieren ist anspruchsvoll. Das gesamte Team muss den Raum verlassen, damit eine spezielle Kamera mit ringartig angeordneten Linsen 360-Grad-Aufnahmen einer Szene machen kann. Das funktioniert ähnlich wie bei einem Panoramabild mit dem Handy, nur mit dem Unterschied, dass die einzelnen Sequenzen nicht nacheinander, sondern gleichzeitig gefilmt werden und dass es sich um 360-Grad-Bewegtbild handelt. Die sich überlappenden Blickfelder werden
danach mit einer speziellen Software gestitcht, also zu einer nahtlosen Rundumaufnahme zusammengefügt. «Da muss sehr präzise gearbeitet werden», erzählt Alexandra Althoff. «Technisch ist das enorm aufwändig.» Dass es überhaupt möglich ist, dem Publikum ein derartiges Erlebnis zu ermöglichen, sei nur dank der Zusammenarbeit mit dem kunstaffinen Unternehmen Heimspiel möglich, mit dem RAUM+ZEIT schon mehrere Projekte realisiert hat, erklärt sie.

Zurück zu Sabina Spielrein. Sie heiratet für ihr Umfeld überraschend den Arzt Pawel Scheftel, bringt zwei Töchter zur Welt, lebt mal in Wien, mal in Berlin und im sowjetischen Russland. Aus finanzieller Not arbeitet sie als Ärztin in einem Blindenheim, dann als Wissenschaftlerin mit Fachbereich Kinderanalyse, später als Institutsleiterin an der Moskauer Universität. Sie ist die bestausgebildete Analytikerin im Land, hält Vorlesungen und Weiterbildungen. Aus Beobachtungen ihrer Kinder Irma Renata und Eva gewinnt sie empirisches Material von grossem Wert. Doch der Aufschwung der Psychoanalyse in den Jahren nach dem 1. Weltkrieg hält in Russland nicht lange an. 1933 wird sie von Stalin verboten und Sabina Spielrein muss die Familie nach dem plötzlichen Tod ihres Mannes als Schulärztin über Wasser halten. Im Sommer 1942 erlangt die deutsche Wehrmacht die Kontrolle über die Stadt Rostow. Zusammen mit ihren Töchtern und allen anderen jüdischen Einwohner*innen wird Sabina Spielrein aus der Stadt getrieben und fünf Kilometer entfernt vom SS-Sonderkommando 10a erschossen.

Holocaust-Opfer, Missbrauchsbetroffene, Psychiatriepatientin: Spielreins Biografie ist voller traumatischer Geschehnisse und potentieller Trigger. «Das ist uns absolut bewusst», sagt Alexandra Althoff. «Wer sich nicht wohlfühlt, kann die Inszenierung jederzeit verlassen.» Das sei allerdings bei all den Arbeiten, die das Kollektiv seit seiner Gründung gestaltet hat, kaum je vorgekommen. «Wir erfahren, dass unsere Theaterabende das Publikum bewegen und begeistern.» Oft bräuchten die Besucher*innen nach der Vorstellung zuerst Zeit für sich, gingen an die frische Luft. «Danach kommen die meisten zurück ins Foyer, schreiben in unser Gästebuch und suchen den Kontakt mit anderen Zuschauer*innen.» Auf diese Gespräche hofft Alexandra Althoff auch am Schauspielhaus Zürich. «Sabina ist eine bedeutende Persönlichkeit. Sie hat es verdient, in die Aufmerksamkeit dieser Stadt zurückzukehren.»

Text: ZORA SCHAAD


ALEXANDRA ALTHOFF arbeitet seit 2003
als Dramaturgin. Von 2019 bis 2022
war sie Stellvertretende Künstlerische
Direktorin am Burgtheater. 2023
wurde sie zum Senior Artist am Max
Reinhardt Seminar ernannt,

LOTHAR KITTSTEIN
geboren 1970 in Trier, ist promovierter
Historiker und arbeitete zunächst
als Headhunter und Dramaturg. Seit
2007 ist er freier Theaterautor.

BERNHARD MIKESKA
geboren in München, promovierte in
Hamburg in Theoretischer Physik über
komplexe Systeme und wechselte
dann zum Theater. Seit 2000 arbeitet er
als freischaffender Regisseur und
Produzent.


DOKTOR SPIELREIN
EINE VR-INSZENIERUNG VON RAUM+ZEIT


(ALTHOFF / KITTSTEIN / MIKESKA)
MIT JULIA JENTSCH, TABITA JOHANNES, MAXIMILIAN REICHERT

URAUFFÜHRUNG 23. OKTOBER,
SCHIFFBAU-MATCHBOX