HEARTSHIP IST EINE LEBENSEINSTELLUNG
Caren Jeß, Uraufführungsautorin von HEARTSHIP, einem Auftragswerk für das Schauspielhaus Zürich, im Gespräch mit der Dramaturgin Maike Müller
MM: Vor einigen Monaten durfte ich bei der Lektüre deines Stücks Sara und Ann kennenlernen, die Protagonistinnen deines Stücks HEARTSHIP. Die Begegnung ist für mich besonders, da ich mich ihnen verbunden fühle – sie könnten meine Freundinnen sein, meine Kolleginnen, meine Nachbarinnen. Dein Text beginnt mit ihrem Aufeinandertreffen und verfolgt die Entwicklung ihrer Beziehung über den Zeitraum eines Jahres. Dabei durchdringt er ihre Ängste, Wünsche, Nöte und Sehnsüchte. Für mich ist HEARTSHIP ein Panorama des sogenannt weiblichen Lebens im kapitalistischen Patriarchat.
CJ: Ann und Sara sind auch für mich wie Freundinnen. Ich habe sie während des Schreibprozesses so gut kennengelernt, dass ich mir einbilde, sie würden wirklich existieren. Beide tragen Wut in sich, sprechen über psychische Erkrankungen und erlittene Gewalt, lassen sich von der Ernsthaftigkeit ihrer Themen aber nicht den Spass rauben – und den teilen sie glücklicherweise mit uns. Die beiden Frauen merken bald, dass ihre Verbindung keine gewöhnliche Freundschaft ist. Sie ist mehr. In Ermangelung eines Wortes für ihre Beziehung erfindet Ann einfach selbst eins: HEARTSHIP. Definitorisch festlegen möchten die beiden Frauen diesen Begriff aber nicht. Er sei wie eine absolute Metapher stellt Sara fest. Ein Begriff, den jede*r mit eigenen Assoziationen und Gefühlen füllen kann. Oder wie meine Verlegerin sagte: «HEARTSHIP ist eine Lebenseinstellung!»
MM: Ann ist Medizinerin, hat einen 19-jährigen Sohn und schon einiges hinter sich. Sara arbeitet in der Öffentlichkeitsarbeit eines Schauspielhauses und veranstaltet ihre eigene feministische Stand-Up-Show. Warum hast du dich dazu entschieden, deine beiden Figuren in so unterschiedlichen gesellschaftlichen Sphären anzusiedeln?
CJ: Das war keine bewusste Entscheidung. So ist es oft beim Schreiben. Meist ist der Anfang meiner Arbeit diffus, da ist ein Thema, eine Atmosphäre, ein inspirierendes Erlebnis – etwas, das ich nicht vorhergesehen habe, vitalisiert mein Denken. Bei HEARTSHIP war es so, dass ich etwas über Zwänge machen wollte. Ausserdem wollte ich meiner Beschäftigung mit sexualisierter Gewalt weiter Ausdruck verleihen. Ich hatte in verschiedene Richtungen losgeschrieben – und immer wieder abgebrochen. Das war nichts. Aber dann trat plötzlich Sara aus dem Backstage ins Rampenlicht und hielt ihre flammende Rede über den feierlichen Abgang aller Frauen ( bzw. Flintas*) von diesem Planeten, um die Männer in ihrem beknackten Patriarchat verschimmeln zu lassen. Naja, und Ann kam da dann noch dazu, sass im Schatten auf einem Barhocker und rezipierte mit kühler Intelligenz, was ihr dargeboten wurde. Sie findet Sara sofort spannend. Auch wenn diese ihr zunächst etwas zu feministisch erscheint. Ann gendert nicht, ist auch sonst nicht besonders diskursfit. Aber genau das ist es doch: Die Wut der Frauen kennt keine Gruppenzugehörigkeit.
MM: Du sprichst in HEARTSHIP viele Themen an – sexuelle und sexualisierte Gewalt, psychische Erkrankungen, gesellschaftlichen Druck. Diese Themen sind das Feld, durch das Ann und Sara ihr Leben navigieren (müssen). Dafür finden sie ineinander – trotz ihrer Unterschiede – eine Partnerin. Sie helfen einander, sich von ihren Erfahrungen nicht dominieren zu lassen und mit Humor auf die Herausforderungen des Patriarchats zu blicken. Oder, um es mit Saras Worten zu sagen: «Ich lass mir doch vom Niedergang der Gesellschaft nicht die Petersilie verhageln! Ich will dieses Leben! In geil!»
CJ: Gewalterfahrungen schlagen sich häufig in Verhaltensveränderungen nieder, nicht selten lösen sie auch psychische Störungen aus. Ann leidet an Dermatillomanie, einer Zwangsstörung, bei der Betroffene die eigene Haut schädigen. Die Entwicklung dieser Krankheit gründet in einer Vergewaltigungserfahrung, die Ann als Jugendliche gemacht hat. Sara widerum leidet unter PMDS, kurz für prämenstruelle dysphorische Störung, für die affektive und körperliche Symptome kennzeichnend sind. Beides sind Störungen, die noch nicht lange in der Internationalen Krankheitsklassifikation ICD gelistet sind. Dadurch bedingt waren sie lange gewissermassen unsichtbar und werden oft bagatellisiert, was bei Betroffenen wiederum zu Frustration führt. Der Druck, der in HEARTSHIP vielfach eine Rolle spielt, umschliesst Themen von Gewalt, Zwang und Mangel gleichsam wie eine feste Hülle und verlangt sprichwörtlich nach einem Ventil. So wird eine Gewalt- bzw. Leidspirale gezeichnet, die allerdings, und das ist das Tolle, von Saras und Anns Verbündung durchbrochen wird: «Eure Gewalt ist nicht der Eisblock, an dem unser Heartship havariert!», ruft Ann aus, und so nehmen sie und Sara Kurs auf eine gerechtere Gesellschaft.
Caren Jeß studierte Deutsche Philologie und Neuere deutsche Literatur in Freiburg und Berlin. 2018 gewann sie
die Residency des Münchner Förderpreises für deutschsprachige Dramatik mit ihrem Stück BOOKPINK, mit dem sie 2020 für den Mülheimer Dramatikerpreis nominiert und zur Nachwuchsdramatikerin des Jahres gekürt wurde.
Im Jahr davor erhielt sie ausserdem den Else-Lasker-Schüler-Stückepreis für ihr Stück DER POPPER und den Preis der taz-Publikumsjury des 26. open mike. 2023 gewann sie für das Stück DIE KATZE ELEONORE den Mülheimer Dramatikpreis sowie den Publikumspreis der Mülheimer Theatertage. Sie lebt in Dresden.
HEARTHSIP
von Caren Jeß
Auftragswerk für das Schauspielhaus Zürich
Regie: EBRU TARTICI BORCHERS
MIT ALICIA AUMÜLLER, KATRIN WICHMANN
URAUFFÜHRUNG 24. JANUAR 2025, Schiffbau-Matchbox