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AM ENDE IST ES DOCH DER MENSCH, DER SICH SELBST BEKRIEGT

Gespräch zwischen der Regisseurin LILJA RUPPRECHT
und der Dramaturgin MAIKE MÜLLER zu «Die Vögel»

In «Die Vögel» arbeiten wir mit drei verschiedenen Stoffen und Genres aus ganz unterschiedlichen Zeiten. «Die Vögel» von Aristophanes ist eine antike Komödie aus dem Jahr 414 v. Chr., «Die Vögel» von Daphne du Maurier ist eine Kurzgeschichte aus dem Jahr 1947 und «Die Vögel» von Alfred Hitchcock ist eine filmische Adaption dieser Kurzgeschichte aus dem Jahr 1963. Wie ist die Idee für das Projekt entstanden?

LILJA RUPPRECHT: In verschiedenen Gesprächen im Themen- und Stückfindungsprozess sind wir an der Frage hängen geblieben, wer eigentlich welche Räume bewohnt. Wie diese Räume aussehen, für wen sie geeignet sind, wer sie gestaltet, und wer mit welchen Gegebenheiten kämpft. Über diese Frage haben wir einerseits im Hinblick auf die Zusammenarbeit mit dem Theater HORA gesprochen, andererseits aber auch allumfassend, uns Menschen betreffend. Anhand dieser Gedanken sind wir zum Verhältnis von Mensch und Natur gekommen: Die Menschen drängen die Natur immer weiter zurück, Äcker, Felder, Industrien und Städte werden immer grösser, und das Leben, das eigentlich dort lebt und die Welt mit uns gemeinsam bewohnt, hat immer weniger Raum. Darüber sind wir bei Hitchcock und seiner Horror-Fabel DIE VÖGEL gelandet, in der sich – könnte man sagen – die Vögel ihr Habitat von den Menschen zurückerobern, und zwar mit Gewalt. Im nächsten Schritt kam die ursprüngliche Vorlage von Daphne du Maurier ins Spiel mit ihren poetischen Beschreibungen der Zyklen der Natur, wie dem von Ebbe und Flut. Dann haben wir den Bogen zur Antike gespannt, zur Komödie von Aristophanes, in der zwei Menschen die Gesellschaft verlassen, um mit den Vögeln zu leben. Bei Aristophanes geht es auch um die Suche nach dem «Wolkenkuckucksheim», einem imaginierten idealen Ort in den Wolken, und es stellt sich die Frage, ob dieser Sehnsuchtsort jemals erreicht werden kann.

Bei Aristophanes wird schnell klar, dass die Menschen die Vögel benutzen, um ihren eigenen Machtanspruch auszuleben. In der Kurzgeschichte von Daphne du Maurier dreht sich das Machtverhältnis um: Eine Dorfgemeinschaft mit einer Kleinfamilie im Zentrum sieht sich mysteriösen, lebensbedrohlichen Vogelangriffen ausgesetzt. In seinem Film übernimmt Alfred Hitchcock diese Handlung, verändert allerdings das Figurentableau. Bei ihm steht ein Liebespaar innerhalb einer dysfunktionalen Familienkonstellation im Zentrum.

Für mich ist das zentrale verbindende Element dieser drei Stoffe die Angst. Die Angst vor dem Übernatürlichen, die Angst vor dem, was man sich nicht vorstellen kann, vor dem Irrationalen, die Angst vor dem Fremden, vor dem inneren Dunklen, vor der Natur, vor Menschen. Die Angst vor Dingen, die im Aussen liegen, und die Angst vor Dingen, die in einem selbst liegen. Am Ende geht es aber immer um die Angst vor dem Anderen, wie auch immer dieses Andere definiert ist. Alle drei Stoffe setzen sich mit der Frage auseinander, was mit dieser Angst passiert. Wie wir uns verhalten, wenn wir Angst bekommen, in welchen Ausnahmezustand uns Angst versetzt und wie wenig wir dann in der Lage sind, bei Sinnen und menschlich zu reagieren. Letztendlich sind du Maurier und Hitchcock mit der Dysfunktionalität von Individuen und deren kaputten Beziehungen nach Innen (Familie, Gesellschaft) und zu ihrer Umwelt (Natur) beschäftigt. Und auch mit der Vorstellung, wir Menschen hätten mit der Natur gar nicht so viel zu tun.

Die drei Stoffe erzählen drei ganz verschiedene Welten, zwischen denen es zwar Verbindungslinien gibt, die aber doch von verschiedenen Sprachen, Figuren, Atmosphären und Themen bevölkert werden. Wie ist die Textfassung entstanden?

Wir haben schon Monate vor Probenstart begonnen, an der Fassung zu arbeiten. Das war eine grosse Aufgabe: einen Zugriff zu entwickeln, ein Text-Konglomerat zu erstellen, zu entscheiden, welche Handlungsstränge und Figuren vorkommen sollen. Und zu überlegen, in welches Verhältnis wir die drei Texte zueinander stellen. Der erste Teil ist jetzt eine ziemlich knappe Version von Aristophanes. Der zweite Teil ist eine Collage oder eine Zusammenstellung sowohl aus Hitchcocks Szenen als auch Textpassagen von Daphne du Maurier. Bei du Maurier gibt es viele atmosphärische Texte, die auch bei uns vorkommen. In manchen Szenen gibt es mehr du Maurier, in manchen mehr Hitchcock. Es gibt auch Figuren, die sprechen Texte aus beiden Stoffen. Darüber hinaus gibt es auch Choreografien, die ohne Sprache stattfinden. Im Probenprozess sind ausserdem tolle Texte von Robin Gilly und Matthias Brücker entstanden, mit denen wir jetzt während der Proben beschäftigt sind und für die wir noch einen Platz im Bogen der Inszenierung suchen.

Es gibt zahlreiche Interpretationen von Daphne du Mauriers Kurzgeschichte und Alfred Hitchcocks Film. Je nach Stossrichtung stehen die Vögel in einer historischen Interpretationslinie symbolisch für Bombenangriffe, in einer psychoanalytischen für verdrängte Sexualität oder den Ödipus-Komplex, in einer ökologischen für die Natur, die zurückschlägt. Und dann bekommen bei Aristophanes, der bei uns als eine Art Prolog gespielt wird, die Vögel selbst eine Sprache. Wofür stehen die Vögel für dich?

Am Anfang sind die Vögel erstmal einfach Vögel. Im ersten Teil sind sie Bewohner*innen einer Region, deren Gesellschaft nach bestimmten Regeln und Alltäglichkeiten funktioniert. Bis sie dann auf das Angebot der Menschen, das Wolkenkuckucksheim zu bauen, hereinfallen. Mit dem Städtebau wird auch das Regelwerk der Menschen implementiert. Es geht um Kontrolle – darüber, wer rein darf, wer raus darf, oder wer raus muss. Und am Ende stellt sich der Mensch über alles und setzt sich selbst die Krone auf. Im zweiten Teil ist es viel offener, was die Vögel sein können. Es gibt Momente, da können sie einfach als Vögel gelesen werden, die Menschen angreifen. Oder als eine Gruppe, die versucht, Einlass zu finden in einen ihr verschlossenen Raum. Es gibt aber auch Momente, da sind die Vögel als politisches Mittel oder sogar als Kriegswaffe konnotiert. Und im letzten Bild fügen wir über die Ebene der Kostüme eine weitere mögliche Lesart hinzu: Am Ende ist es doch der Mensch, der sich selbst bekriegt. Aus den Vögeln werden Menschen, und es geht um den Krieg zwischen Menschen und ihrer eigenen Art.

Wir haben im Probenprozess darüber gesprochen, dass das ganze Projekt wie eine Parabel ist. Einerseits eine Parabel über das Verhältnis von Mensch und Umwelt, über das Verhältnis von Innen und Aussen. Andererseits eine Parabel darüber, was im Angesicht einer Katastrophe mit Menschen und Beziehungen passiert. Und darüber, wie oft aus dem Blickfeld gerät, dass alles miteinander zusammenhängt und immer in einem wechselwirkenden Verhältnis steht.

Ich glaube, dass das Thema von Umwelt, Mensch und Natur am leichtesten lesbar ist. Damit fängt die Inszenierung ja auch an. Gleichzeitig finde ich das Tolle an den drei Stoffen, dass die Fabel mit allen möglichen Bildern und Situationen begehbar und befüllbar ist. Gerade in so einer angespannten politischen Zeit wie der, in der wir uns gerade befinden, in der es so leicht ist, sich selbst bedroht zu fühlen. In der alle damit beschäftigt sind, ihr eigenes Hab und Gut, das eigene Haus, den eigenen Garten, die eigene Nation und die eigenen Grenzen zu sichern und aufrechtzuerhalten. Und das führt dann zu dem Zyklus von Gewalt, von dem DIE VÖGEL erzählen. Man denkt doch immer: Wie sind wir eigentlich dahin gekommen, wo wir heute sind? Und wieso gibt es kein gemeinsames Wachsen, kein gemeinsames Besser-Werden im Miteinander? Aber letztendlich ist das wahrscheinlich leider ein Irrglaube, dass es möglich ist, aus Feh-lern zu lernen. Denn das passiert einfach nicht. Im Gegenteil, wir landen immer wieder an Punkten, an denen wir denken: Hier waren wir doch schon mal, diese Katastrophe hatten wir doch schon mal. Das hält uns aber überhaupt nicht davon ab, immer wieder in genau die gleichen Muster zu verfallen uns permanent in dieser immer fortlaufenden Spirale von Gewalt wiederzufinden.

Wenn ich über das Projekt nachdenke, stosse ich immer wieder darauf, wie nah der zweite Teil ist an dem Gefühl, das ich gerade habe, das viele Menschen haben, wenn wir auf die Weltereignisse blicken. Man blickt auf eine Katastrophe, man weiss, dass sie kommt – und zwar nicht nur eine, sondern viele verschiedene: die Klimakatastrophe, politische Katastrophen, humanitäre Katastrophen. Man fühlt sich wie ein*e Beobachter*in, alles wird immer schlimmer, aber man weiss nicht so richtig, was tun. Und dann beobachtet man, wie Menschen beginnen, ganz verschieden damit umzugehen. Manche suchen sich Erklärungsmuster, und einige gehen in diesen Erzählungen verloren. Oder bekämpfen einander. Oder ziehen sich zurück. Das finde ich das Spannende an dem Projekt – dass wir mit diesen drei Stoffen arbeiten, die zunächst auch sperrig erscheinen, eigentlich aber genau beschreiben, wo wir gerade sind.

Was ich daran faszinierend finde, ist, was in dem Moment, in dem die Verunsicherung im Aussen gross wird, im Inneren passiert. Das kann einen kleineren Kosmos betreffen, eine Familie oder Dorfgemeinschaft, oder eine Nation, einen Kontinent oder den ganzen Planeten. Diese Verunsicherung bringt einen nicht unbedingt näher zu sich selbst. Man wird nicht besonnener dadurch oder weiser oder liebevoller oder empathischer oder klarsichtiger, sondern es passiert das Gegenteil. Alle flippen völlig aus, man kommt in seltsame Gedankenstrudel. Die innere Panik wird so gross, dass sie einen zu seltsamen Dingen treibt. Und wir realisieren, dass bestimmte Dinge, die wir nicht für möglich gehalten haben, auf einmal wieder möglich werden. Und dass sich die Menschheit nicht weiter entwickelt zum Guten. Das war, glaube ich, eine Hoffnung, mit der zumindest ich gelebt habe, wahrscheinlich auch viele meiner Mitmenschen. Das auszuhalten oder darin gemeinsam eine gute Richtung zu finden, das fängt für mich im kleinen Miteinander an. Dazu, finde ich, ruft der Stoff auf, darüber nachzudenken. Welche Verbindungen haben wir zu uns selbst unseren Nächsten gegenüber, zu einer grösseren Gemeinschaft, und am Ende zum Planeten, auf dem wir leben.

Die Produktion ist eine Kooperation zwischen dem Theater HORA und dem Schauspielhaus Zürich. In den Proben und auf der Bühne treffen ganz unterschiedliche Menschen aufeinander. Wie ist der Arbeitsprozess? Wie sind die Proben strukturiert?

Wir sind im Proberaum jeden Tag viele, sehr unterschiedliche Menschen mit unterschiedlichen Bedürfnissen und Arbeitsweisen. Aber wir haben versucht, eine gemeinsame daraus zu machen. Und das funktioniert ziemlich gut. Am Anfang haben wir Spiele gespielt, uns kennengelernt, gelesen, uns die Geschichte, mit der wir uns beschäftigen, immer wieder erzählt. Wir haben auch philosophische oder historische Texte gelesen, um herauszufinden, wie die Dinge, mit denen wir uns beschäftigen, zusammenhängen. In welchem Verhältnis Menschen und Vögel miteinander stehen. Wir treffen uns jeden Morgen zu einem gemeinsamen Kreis und Warm-Up und jetzt, in den szenischen Proben, lernen dann die, die gerade nicht dran sind, Text, oder beschäftigen sich mit etwas anderem. Dann kommen wir wieder zusammen. Ich würde auf jeden Fall sagen, dass diese unterschiedlichen Menschen im Prozess zu einem Ensemble zusammengewachsen sind.

Fotos: Philip Frowein


Lilja Rupprecht

Lilja Rupprecht war 2005 – 2009 Regieassistentin am Thalia Theater Hamburg. Ab 2009 studierte sie Regie an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch in Berlin, seit 2010 inszeniert sie u. a. am Deutschen Theater Berlin, Burgtheater Wien, Schauspiel Frankfurt, Schauspiel Köln, Schauspiel Stuttgart, an der Schaubühne Berlin, dem Staatstheater Hannover. Ausserdem arbeitet sie regelmässig am inklusiven Theater RambaZamba in Berlin.


THEATER HORA

Theater HORA aus Zürich wurde 1993 gegründet und ist eine der bekanntesten freien Theater-, Tanz- und Performance-Gruppen der Schweiz (zur Geschichte von Theater HORA geht es hier). Im Zentrum seiner Arbeit steht das HORA-Ensemble, in dem ausschliesslich Schauspieler*innen mit IV-zertifizierter kognitiver Beeinträchtigung arbeiten. Seine Produktionen zeigt Theater HORA an lokalen, überregionalen und internationalen Theaterhäusern und Festivals.