Vorgefühlt:
Über Sebastian Hartmanns Theaterästhetik
Mit ALSO SPRACH ZARATHUSTRA kommt Regisseur Sebastian Hartmann endlich nach Zürich. Seine Kunst fordert heraus, fasziniert und entzieht sich jeder einfachen Beschreibung. Das Publikum erlebt einen Sog in neue Wahrnehmungswelten – und eine Nacht, die nachhallt. Ab dem 3. Mai in der Schiffbau-Halle.
Hinsetzen, sich berieseln, betören, beeindrucken lassen, applaudieren, heimgehen – nicht so mit Sebastian Hartmann! Seine Inszenierungen sind kein 90-Minuten-Theater im klassischen Sinn. Sie sind Exzesse, zum Leben erweckte Gedankenlawinen, die das Publikum mitziehen in eine Theatererfahrung, die zwischen Chaos und Klarheit, Ekstase und Stille, Überforderung und Offenbarung changiert – und in Zürich mitten ins Herz des Nietzsche’schen Denkens führt.
Bekannt für seine bildgewaltigen und überwältigenden Inszenierungen, nimmt sich der vielfach zum Berliner Theatertreffen eingeladene Regisseur klassischer Stoffe, grosser Romane oder philosophischer Texte an und verwandelt sie in sinnlich erfahrbare Erlebnisse. Für Zürich trifft Sebastian Hartmann nun auf ALSO SPRACH ZARATHUSTRA, das wohl berühmteste Werk Friedrich Nietzsches. Es erzählt von Zarathustra, einem Erleuchteten, der nach Jahren der Einsamkeit von seinem Berg herabsteigt, um seine Weisheit mit den Menschen zu teilen. Er verkündet den Tod Gottes und das Ideal des «Übermenschen», will aufrufen zum gefährlichen Leben und zur Umwertung aller Werte – und stösst dabei an die Grenzen von Sprache und Vermittelbarkeit. Auf seiner Reise trifft Zarathustra Anhänger*innen wie Gegner*innen, durchlebt Zweifel und Einsamkeit …
In der Inszenierung von Sebastian Hartmann wird diese Handlung jedoch nicht eins-zu-eins dargestellt werden. Hier verkörpern die Schauspieler*innen keine Figuren oder Rollen. Stattdessen entfalten sich Stimmen, Projektionen und Textfragmente, verschmelzen Sprache, Musik, Video und Körperlichkeit zu einem berauschenden Gesamtkunstwerk. Wer zuschaut, ist herausgefordert, eigene Sehgewohnheiten zu hinterfragen und neue Wahrnehmungsebenen zu entdecken. Dieses Theater zielt nicht darauf, Antworten zu liefern, sondern Denken und Fühlen der Zuschauer*innen in Bewegung zu setzen.
Sebastian Hartmanns Arbeitsweise mag radikal erscheinen, ist aber immer auch stark kollektiv geprägt. Er setzt auf Improvisation, die schöpferische Mitarbeit seiner Schauspieler*innen und auf die Kreativität des gesamten Teams. Künstler*innen aus Videokunst, Kostümbild, Sound- und Lichtdesign entwerfen atmosphärische Räume. So ziehen durch die karge Industriehalle des Schiffbaus dichte Nebelschwaden, wo sie sich lichten, fällt der Blick auf riesige Leinwände, auf denen mal live gedrehte Videoprojektionen erscheinen, mal die Schauspieler*innen mit riesenhaften Pinseln und kübelweise Acrylfarbe live vor den Augen des Publikums abstrakte Bildwelten entstehen lassen. Hartmanns Inszenierungen wirken oft wie surreale Traumlandschaften, in denen Raum und Zeit verschwimmen.
Die erste Zürcher Inszenierung von Sebastian Hartmann wird ein Spektakel, in dem sich die Grenzen zwischen Zuschauer*innen und Spieler*innen auflösen und an dessen Ende sich alle im Tanz vereinen, in einem berauschenden gemeinsamen Technorave. Das kann zwischen 90 Minuten und 5 Stunden dauern, doch keine Angst: Die Schiffbau-Bar ist offen, Füsse vertreten immer erlaubt und Nietzsche-Vorkenntnisse sind absolut keine Pflicht. Hineingeworfen in einen Strudel aus Gedanken und Emotionen, bleibt am Ende vielleicht das Gefühl, nicht jedes Detail verstanden zu haben, aber doch aufgerüttelt zu sein. Und der Drang, die Nacht einzuatmen und weiterzudenken. Denn, wie es bei Nietzsche heisst: «Alle Lust will Ewigkeit».