Premiere am 10. September 2016
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Das Konfliktpotential in Sophokles’ „Antigone“ aus dem Jahr 441 v. Chr. beunruhigt noch immer. Die Tragödie ist ein Gründungsnarrativ der abendländischen Tradition. Die Anatomie zwischen dem Recht des Gemeinwesens und dem Recht der Familienbindung meinen wir, zugunsten des Staates gelöst zu haben, aber die Kraft einer Tragödie kann alle Gewissheiten erodieren. Antigone, eine Tochter des Ödipus, verlangt die Bestattung ihres Bruders Polyneikes. Im Zweikampf um die Macht in Theben haben die Brüder Eteokles und Polyneikes einander umgebracht. Da Polyneikes die Stadt mit einem fremden Heer von aussen angegriffen hat, hat der neue Herrscher Kreon angeordnet, seine Leiche vor der Stadt unbegraben den Vögeln und Hunden zu überlassen. Er beruft sich auf das Recht des Staates. Antigone beruft sich auf das Recht der Toten und bestattet den Bruder. Sie wird auf Anweisung von Kreon zur Strafe eingemauert und erhängt sich im Grab. Daraufhin tötet sich erst Antigones Verlobter Haimon, Kreons Sohn, dann Kreons Frau Eurydike. Auch Kreon selbst wünscht sich am Ende den Tod.
Ein Machthaber verliert gegen ein Mädchen, dem alles egal ist, weil ihr die Achtung des Toten wichtiger ist als das eigene Leben. Denn es ist nicht die unauflösliche Anatomie der Rechtsprinzipien, die diese Tragödie so bewegend macht: Die Autorität eines als unantastbar empfundenen Rechtssystems bricht ein, wenn ein einzelner Mensch bereit ist, alles aufs Spiel zu setzen. Der Chor spielt wie immer die Rolle des Emotionsverstärkers, der in der öffentlichen Schau der streitenden Vertreter der Elite zwischen den Parteien schwarmhaft schwankt und auf seine Weise Stimmung statt Politik macht.
Stefan Pucher, der seit 2000 regelmässig am Schauspielhaus Zürich arbeitet, hat mit seinen textkonzentrierten, bild- und assoziationsreichen Inszenierungen viele Stoffe des klassischen Repertoires in eine zeitgenössische Welt transportiert. Der 2016 mit dem Berliner Literaturpreis ausgezeichnete deutsch-türkische Autor Feridun Zaimoglu thematisiert in seinem Werk das Aufeinanderprallen von Kultur und Religion. Zusammen mit dem Autor Günter Senkel hat er bereits mehrere Dramenbearbeitungen und Drehbücher verfasst. In der konzeptionellen Raumanordnung der Bühnenbildnerin Barbara Ehnes, den Bildwelten des Video- und Performance-Künstlers Chris Kondek und mit der Musik von Christopher Uhe gelingt es, den Konflikt einer Tragödie zu einem zeitgenössisch relevanten Ereignis in popkultureller Ästhetik zu machen, ohne dessen Dimension zu verkleinern.
Stefan Puchers jüngste Inszenierung am Schauspielhaus Zürich „Ein Volksfeind“ von Henrik Ibsen wurde zum Theatertreffen 2016 nach Berlin eingeladen.
„Die „Antigone“ von Sophokles ist ein Stück, das trotz seines hohen Alters – Uraufführung 442 v.Chr. in Athen – bis in unsere Tage kein Bisschen Patina angesetzt hat. Im Zeitalter des IS, brutalster Kriege, humanitärer Katastrophen, stur machtgeiler Herrscher und durchgedrehter Medien geht der Konflikt zwischen radikaler Staatsmacht und kompromisslosem Individuum unvermindert unter die Haut. Ganz besonders, weil es den beiden Autoren Feridun Zaimoglu und Günter Senkel gelungen ist, den Text des Sophokles ins Heute zu transponieren: Durch eine direkt-verständliche Sprache und mit starken Bildern.“ sda
„Den zahllosen Interpretationen von Hegel bis Hölderlin, von Derrida bis Žižek, die dieses Stück schon erlebt hat, fügen Zaimoglu und Senkel eine weitere hinzu. Ihre „Antigone“ ist eine hochpolitische und brandaktuelle Angelegenheit. Theben hat soeben einen Bruderkrieg hinter sich. Eine neue Ordnung hat sich etabliert. Aber sie ist totalitär und trägt den Keim des Zerfalls bereits in sich. Entsprechend rigide gebärdet sich der neue Machthaber, entsprechend paranoid achtet er auf jedes noch so kleine Anzeichen der Usurpation.“ journal21.ch
„In dieser insgesamt jedoch erhellenden und ästhetisch reizvollen Inszenierung beschreibt Elisa Plüss eine Antigone, die ihren Anspruch auf den Status der Titelheldin mit narzisstischem Märtyrer-Gehabe unterstreicht. Diese besorgte Bürgerin will keine demokratische Kompromiss-Kultur, ihr Weltbild ist so geschlossen wie unverhandelbar. Hans Kremer offenbart hinter Kreons vordergründiger Selbstgewissheit die begründete Furcht vor dem allzeit möglichen Umsturz. Despotische Tyrannei wird so als Abwehrbewegung einer zutiefst ängstlichen und einsamen Persönlichkeit sichtbar. Am überzeugendsten aber ist Siggi Schwientek als Seher Teiresias. Als der alte Mann in blauem Jogginganzug auf die Bühne tapert und dem Herrscher von einem ominösen Zirkel der sogenannten „Hochverehrten“ berichtet, die Antigones Inhaftierung für strategisch unklug halten, da wird deutlich: Die wahre Herrschaft liegt gar nicht bei einem albernen Tyrannen mit Kim-Jong-Un-Anzug. Sie liegt in den Händen von diskreten Tischrunden in Banken-Etagen und Unternehmerverbänden, Börsenkreisen und Waffen-Lobbyisten. „Ihr seid der Feind!“, ruft Kreon erstaunt, als er die Zusammenhänge erkennt. Doch da streckt ihn auch schon eine Gewehrsalve zu Boden.“ Südkurier
„Sophokles’ zeitloser Klassiker, der befragt, wo die Grenzen liegen zwischen Politik und Humanität, zwischen Reform und Menschlichkeit, zählt zu den grundlegenden Texten der abendländischen Kultur. Mühelos überspringt die Tragödie die über 2400 Jahre seit ihrer Entstehung und trifft direkt ins Heute – so auch in der pompösen Inszenierung von Stefan Pucher, die zum Saisonstart des Schauspielhauses Zürich in der Schiffbau-Halle Premiere feierte. Es ist eine aussergewöhnlich aggressive, archaische, hervorragend besetzte und durchwegs fesselnde Inszenierung, die am Eröffnungsabend mit viel Applaus bedacht wurde.“ seniorweb.ch
„Die Krisenherde unserer Zeit lodern auf, und die Hilflosigkeit von heute scheint sich mit jener im Stück aus dem Jahr 442 vor Christus zu vermischen. Riesig werden weisse Lettern auf die gefilmten Katastrophen projiziert: Autor Zaimoglu steigt gleich mit dem berühmtesten Zitat ein und rüstets noch ein wenig auf. „Unheimlich und dämonisch ist viel, doch nichts so unheimlich dämonisch wie der Mensch.““ Tages-Anzeiger
„Hans Kremer gibt seinen Kreon als einen Tyrannen von klirrender Kälte, machtbesessen und angstgepeinigt zugleich. Ein opportunistischer Berater (Jean-Pierre Cornu) redet ihm nach dem Mund. Eine medial manipulierte Öffentlichkeit jubelt ihm zu (der Chor der Medienleute). Ein Geheimdienstchef (Nicolas Rosat) sorgt dafür, dass niemand aufmuckt. Nur Teiresias, der blinde Seher (Siggi Schwientek), tritt der Hybris des Despoten warnend entgegen. Verlass ist aber auch auf ihn nicht. Verlass ist auf niemanden. Kreon weiss es. Das macht ihn grausam und unberechenbar: grausam gegen seinen schwächlichen Sohn und grausam gegen die Eine und Einzige, die ihm ins Angesicht widersteht: Antigone. Elisa Plüss’ Antigone ist, im Gegensatz zu anderen Inszenierungen des Stücks, nicht das liebende kleine Mädchen, das anrührt, weil es um des toten Bruders willen sein Leben hingibt. Diese Antigone ist nicht weniger kalt als der Despot, der ihr Gegner und zugleich ihr Onkel ist.“ journal21.ch
„Wie es denn weitergeht, darüber lässt sich Teiresias, der von Siggi Schwientek wunderbar lakonisch gespielte Seher, erst ganz am Schluss aus. Er prophezeit, dass ein neuer Lenker, der auf Kreon folgen werde, uns zum Licht führen wird. Ein Spruch, der sich nach dem Gemetzel im Familienkrieg zwischen Recht und Gesetz freilich von selbst widerlegt. Denn mit Antigone und Kreon sind antagonistische Kräfte aufeinandergeprallt, die für jede staatliche Gesellschaft so konstituierend wie unvereinbar sind.“ Basler Zeitung
„Grossartig ist die schauspielerische Leistung der Darsteller, allen voran Hans Kremer als machthungriger Despot Kreon. Elisa Plüss verkörpert eine etwas gar pubertäre Antigone, die vor Selbstgefälligkeit strotzt. Grossartig sind auch die Auftritte von Jean-Pierre Cornu als schleimiger und hinterlistiger Berater Kreons und Siggi Schwientek als blinder Seher Teiresias. Grandios, wie Schwientek dem mächtigen Kreon das baldige Ende prophezeit. Zu gefallen wIssen auch Julia Kreusch als angepasste und verführerische Ismene (Schwester von Antigone) und Daniel Lommatzsch als Kreons zerrissener Sohn Haimon. Lobende Erwähnung verdient schliesslich noch das Live-Musik-Trio mit Réka Csiszér, Hipp Mathis und Becky Lee Walters.“ seniorweb.ch
„Dass diese Neuschreibung sich auch mit grossem Atem entfalten kann, ist in erster Linie der Hauptprotagonistin des Abends zu danken: der schlicht umwerfenden Raumgestaltung im Schiffbau. Barbara Ehnes hat auf drei Seiten der Halle Zuschauertribünen aufgebaut. Von dort schaut das Publikum auf zwei lange Stege, die zur zentralen Spielfläche führen. Dahinter die Prospektwand, auf der Videos vorüberziehen: zerstörte Städte, Spiegelung des Raumgeschehens, Texte. Zur dichten Atmosphäre in diesem Raum trägt aber auch ganz entscheidend die facettenreiche Live-Musik-Palette bei, die das Spielgeschehen untermalt und streckenweise losfetzend dominiert (Christopher Uhe, Becky Lee Walters, Réka Csiszér, Hipp Mathis).“ sda