Schiffbau/Box
Premiere am 3. Februar 2011
Eines Morgens findet sich der aus einem Rausch erwachende Lenglumé mit schwarzen Händen neben einem fremden Mann im Bett wieder. Es ist sein alter Schulkamerad Mistingue – und an die letzte Nacht können sich beide nicht erinnern. Mit den rätselhaften Dingen, die nach und nach auftauchen – Kernen, einem Damenschuh oder Kohlestücke – wissen sie nichts anzufangen. Als Lenglumés Frau Norine in der Zeitung liest, dass in der Rue de Lourcine ein Mädchen ermordet wurde, kombinieren die beiden entsetzt: Sie selbst sind die Mörder. Jetzt gilt es, möglichst schnell alle Spuren zu verwischen und die vermeintlichen Belastungszeugen Justin und Potard zu beseitigen. Oder trügt doch der Schein – und alles ist ganz anders? Eugène Labiche zeigt in „Die Affäre Rue de la Lourcine“ (1857) die Abgründe, die sich hinter einer bürgerlichen Fassade auftun können. Inszeniert hat das Stück Sebastian Baumgarten, der am Schauspielhaus Zürich zum ersten Mal Regie führte.
„In Labiches Komödien-Hit „Die Affäre Rue de Lourcine“ aus dem Jahr 1857 wacht der Privatier Lenglumé (im Schiffbau wunderbar verwirrt: Klaus Brömmelmeier) aus schwerem Schlaf auf und findet sich in einem Albtraum wieder. In seinem Bett liegt ein fremder Mann, in seiner Jackentasche hat er Kirschkerne und Kohlenstücke und in seinem Kopf kaum mehr als ein Monster von einer Migräne: Die Erinnerung an den vergangenen Abend ist weg. Und der Schirm mit dem Affenkopf auch. Die Farce um den feinen Pinkel, der mit seinem alten Schulkameraden auf Sauftour war und am nächsten Morgen wegen eines Zeitungsartikels fälschlicherweise annimmt, sie beide hätten im Rausch ein Kohlenmädchen erschlagen, sie ist bitterböser Boulevard, kesser Klamauk, sacht gesellschaftskritisches Klippklapptheater mit raschen Auf- und Abtritten, Irrtümern und kleinen Intrigen und einem scheinbar harmlosen Happy End.“ Tages-Anzeiger
„„Nehmen wir eine Tragödie und beschleunigen sie, so haben wir eine Komödie“ stellte Eugène Ionesco einst fest. Jetzt hat Sebastian Baumgarten Labiches „Die Affäre Rue de Lourcine“ am Schauspielhaus Zürich inszeniert. Und Baumgarten hat nicht nur das Tempo angezogen, sondern 19. Jahrhundert und Gegenwart, Realität und Traum psychedelisch verschmolzen und eine grossartige Inszenierung geschaffen.“ Nachtkritik.de
„Der Berliner Regisseur Sebastian Baumgarten, der zum ersten Mal am Schauspielhaus Zürich arbeitet, jagt seine Darsteller wie Pinbälle durchs schwarzgoldene Bühnenbild. Perfekt in dieses theatrale Flipperspiel passen verborgene (Dreh-)Türen, versponnene Soundeffekte und eine hyperrealistische Videokulisse. Eugène Labiche, der Meister des Vaudeville im 19. Jahrhundert, würde staunen, wozu seine Stücke heute fähig sind.“ Basler Zeitung
„Der Anfang ist fulminant. Eine Wand in der Schiffbaubox, ein hastendes Video, eine Fülle der kurzgeschnittenen Informationen, wenn sich eine Hauptinformation aus der Bild-Überrumpelung ziehen lässt, dann allenfalls die, dass der Mensch des Menschen Raubtier ist – und unversehens stürzt die Wand gegen das Publikum, und wie im Aufklappbuch öffnet sich ein bürgerliches Interieur, das technisch hochgerüstete Wohnzimmer der Lenglumés aus Labiches Komödie. Genauso abrupt ist der Rhythmus- und Stimmungswechsel, ein Temperatursturz von der überhitzten Eingangssequenz zu coolem Lounge-Ambiente, Hausdiener Justin wedelt mit den Straussenfedern ganz wie in der Cage aux folles.“ NZZ
„Was Sebastian Baumgarten in der Box an fetziger Oberflächen-Dekonstruktion hinlegte, war die süffigste Variante dieses Stücks, die ich bis jetzt gesehen habe. Die Schauspieler brillierten in ihren karikaturesken Rollen: hinreissend zum Beispiel Jan Bluthardt als Diener Justin bei M. und Mme. Justin, der hier wie ein Black Minstrel zurechtgemacht ist, auch schon mal „Neger“ genannt wird, aus Kuba stammt, Voodoo mag, ständig Spanisch parliert („venceremos“), seine Chefin anmacht („ay, mamita“) und sich zudem nur hüftschwingend und tanzend fortbewegt. Oder Madame selbst mit ihren rosa Puschel-Pantöffelchen und ihrer Fünfzigerjahre-Frisur, die den Stücktext gern mal auf Französisch spricht und zwischendurch auf die Suche nach sich selbst geht in einem Scifi-Bett (eine grossartige Carolin Conrad). Auch Lenglumés Schulkamerad Mistingue, der geradezu als Klon des Hausherrn auftritt – sie teilen sich sogar die Brille –, versteht sich in der Gestalt von Miguel Abrantes Ostrowski aufs Pantomimische und Parodistische, auf die überdrehte Geste, die grotesken Gummikörperwindungen. Dazu swingt und jazzt die Musik; es dürfen auch mal Pariser Akkordeon-Noten sein oder Orgeltöne (Musik: Christoph Clöser), und man merkt, dass Baumgarten aus der Opernregie kommt.“ Tages-Anzeiger
„Sebastian Baumgarten inszeniert das Stück – chronologisch und für seine Verhältnisse überraschend textgetreu – als wilden Rausch. In atemberaubendem Tempo jagt er die vier wendigen, spielfreudigen Darsteller durch die streng gebaute Handlung und zieht dabei alle Register der Komödienkonvention.“ Nachtkritik.de