Pfauen/Kammer
Premiere am 8. Januar 2010
In der im Jahre 1912 entstandenen Erzählung „Die Verwandlung“ von Franz Kafka erwacht Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen und sieht sich in ein ungeheures Ungeziefer verwandelt. Als Handlungsreisender hat er bisher für den finanziellen Lebensunterhalt der Familie gesorgt und die Schulden aus dem Zusammenbruch des väterlichen Geschäfts abgearbeitet. Waren ihm die beruflichen Hierarchien zwar verhasst, hat ihn die Verantwortung für das Wohlergehen der Familie doch mit Stolz und Glück erfüllt. Selbst am Morgen seiner Verwandlung in einen Käfer ist Gregor nur vom Gedanken beseelt, zum Bahnhof zu gelangen und die versäumte Arbeitszeit nachzuholen. Seine Familie reagiert mit Entsetzen, weggesperrt und isoliert von der Aussenwelt wird Gregor von nun an nutzlos in seinem Zimmer dahinvegetieren. Da die Familie von nun an aus eigener Kraft für ihren Unterhalt sorgen muss, verändern sich auch die Familienstrukturen: Der alte, gebrechliche Vater erlebt eine Verjüngung und tritt Gregor als strafende, rächende Autorität gegenüber. Die jüngere Schwester, die bisher ein sorgloses Leben führte, versorgt Gregor zu Anfang zwar noch liebevoll, nimmt jedoch zunehmend Gregors alten Platz ein, erhält so immer mehr Macht innerhalb der Familie und stellt sich gegen den Bruder, um schliesslich sogar seinen Tod zu fordern. Nur der Mutter gelingt es, in dem Käfer weiterhin ihren Sohn zu sehen, doch reicht ihre Kraft nicht aus, sich gegen den Vater und die Tochter zu stellen.
Gregors Käfersein lässt sich nicht abschliessend interpretieren, doch stellt der in einen Käfer verwandelte Mensch Fragen nach der menschlichen Identität und der Möglichkeit, sich selbst zu begreifen und anzunehmen und verhandelt die Diffusion gesellschaftlicher Machtstrukturen sowie ihre deformierenden Wirkungen bis in den privaten Bereich. Mit Blick auf die Familie Samsa beschreibt Kafka menschliches Zusammenleben als Konkurrenzkampf, in dem Kommunikation nicht möglich scheint und der Einzelne selbst an den nächsten Mitmenschen Verrat üben wird, um das eigene Überleben zu sichern.
„Eine ganze Kiste Äpfel feuert Vater Samsa auf den halb nackt in Unterwäsche am Boden liegenden Gergor. Ist es diese Entmenschlichung von Gregors Familie, die uns Nina Mattenklotz mit der Puppenkopf-Familie zeigen will? Nein, die Regisseurin arbeitet zusammen mit ihren Dramaturginnen Katja Hagedorn und Meike Sasse eine viel interessantere Deutung von Kafkas Text heraus: „Weg muss es“, erklärt Gregors Schwester anders als bei Kafka nicht erst am Ende, sondern gleich zu Beginn des Abends. „Es“ ist Gretes Käferbruder, der – wie uns Mattenklotz mit ihrer Lesart zeigt – nicht durch eine physische Verwandlung zu jenem „Untier“ wurde, das Grete loswerden will, sondern durch sein sexuelles Begehren, das er gegenüber der jüngeren Schwester offenbart.“ Tages-Anzeiger
„Nina Mattenklotz entscheidet sich in ihrer Inszenierung für eine Verlagerung der Metaphorik. Sichtbar verwandelt werden auf der Bühne der Vater (Nicolas Rosat), die Mutter (Cathrin Störmer) und die Schwester (Franziska Machens): Wasserkopfähnliche Masken machen ihre archetypischen Funktionen des Tyrannen, der Dulderin und der Verführerin sichtbar, betonen aber auch ihre depressive Erstarrung. Dem Zerfall der Familie entspricht der Zerfall der anfangs noch durch ein vielstimmiges Erzählen bestimmten dramatischen Struktur. Dieser Zerfall scheint mit Gregors Tod am Schluss gestoppt, doch die Regisseurin stellt den Jubel ins Zwielicht, weil sie wohl die Erstarrung, nicht aber die Maskenhaftigkeit aufhebt.“ NZZ
„Das Kalte und das Weiche, die Verhärtung und das Dehnen von Körpern: Diese Qualitäten hat Nina Mattenklotz ihrer Inszenierung von Kafkas „Verwandlung“ eingeschrieben.“ Thurgauer Zeitung
„Realistisch ist Kafkas Erzählung bei der Lektüre und sowieso auf dem Theater nicht beizukommen. Wo beim gedruckten Text aber absurde, soziale oder verschiedene psychologische Interpretationen nebeneinander stehen können, muss sich eine Inszenierung entscheiden – oder sich um ihre Deutungsoffenheit aktiv bemühen. Die dreissigjährige Hamburgerin Nina Mattenklotz schafft, zusammen mit ihren Ausstatterinnen, beides. Man versteht, warum die Regisseurin als Aufsteigerin und Entdeckung gilt.“ Zürcher Landzeitung