Schiffbau/Box
Premiere am 2. Februar 2012
Der Gelegenheitsarbeiter und Tagträumer Tony, ein bis dato unauffälliger junger Mann, erleidet einen ungewöhnlichen Unfall – ungewöhnlich deshalb, weil ihm dieser Unfall unermessliches grosses Wissen verleiht. Irgendwann wird sein neues Wissen für Tony jedoch so unerträglich, dass er es wieder loswerden möchte – am besten auf dieselbe Art und Weise, wie es ihm zugefallen ist … Nach „Malaga“ hat Hausautor und Dramaturg Lukas Bärfuss mit „Zwanzigtausend Seiten“ sein zweites neues Stück am Schauspielhaus Zürich vorgelegt. Regie führt Lars-Ole Walburg, der sich 2010 dem Zürcher Publikum mit der Inszenierung von Dürrenmatts „Panne“ vorstellte.
„Lukas Bärfuss fragt nach den Werten einer Gesellschaft und was die gelten. Das tat er in seinem Roman „Hundert Tage“, in dem es um Entwicklungshilfe geht. Das tat er in seinem Stück „Alices Reise in die Schweiz“, in dem Sterbehilfe das Thema ist und das tut er nun, in den „Zwanzigtausend Seiten“ wenn er nach dem Wert der Erinnerung fragt und danach, wie Identität konstruiert wird. Sind wir das, was wir sind, aufgrund von Geschichte, die erinnert wird? Oder sind wir, was andere von uns erwarten? Kurz: Sind wir Wesen mit historischem Bewusstsein oder sind wir Kugelschreiber? In der Beantwortung dieser grundsätzlichen Frage, und das ist das Grossartige an diesem Stück, behält keiner eine weisse Weste.“ DRS 2
„Die Aufregung war gross, auch die allgemeine Scham. In einem erschütternden Bericht hielt der US-Staatssekretär Stuart Eizenstat der Schweizer Nationalbank vor, dass und wie systematisch sie Nazi-Deutschland Raubgold-Beute aus dem Vernichtungsfeldzug gegen die Juden abgekauft hatte. Die Enthüllungen beherrschten die politischen Debatten in der Alpenrepublik. Das war vor 15 Jahren. Irgendwann kehrte wieder Ruhe ein. Nun rüttelt der Schweizer Dramatiker Lukas Bärfuss mit Hilfe des deutschen Regisseurs Lars-Ole Walburg erneut am politischen Gedächtnis der Eidgenossen. Zumindest jener, die ins Theater gehen. Bei ihnen aber wohl mit grossem Erfolg, wie Donnerstagabend der langanhaltende Beifall nach der Uraufführung der bitteren Farce „Zwanzigtausend Seiten“ am Schauspielhaus Zürich ahnen liess. Der 40-jährige Bärfuss aus dem malerischen Thun, der zu den gefragtesten Dramatikern Europas gehört, thematisiert damit das oft menschenverachtende Verhalten Schweizer Staatsdiener gegenüber jüdischen und anderen Flüchtlingen während des Zweiten Weltkrieges. Der gebürtige Rostocker Walburg – von 2003 bis 2006 Schauspieldirektor in Basel und seit 2009 Intendant des Schauspiels Hannover – setzte das dialogstarke Stück mit minimaler, aber effektvoller Bühnentechnik und Kostümierung auf einer quadratischen Fläche in Szene, die von den Zuschauern an allen vier Seiten umgeben wird. So entsteht starke Nähe zwischen dem engagierten Schauspielerensemble und dem Publikum. Man ist versucht, einfach mitzureden, so unmittelbar wird man in das Stück und die umstrittene Schweizer Weltkriegsgeschichte hineingezogen.“ focus.de
„Lukas Bärfuss liegt nichts daran, es sich und seinem Publikum leicht zu machen. Sein komplexes, nicht leicht durchschaubares Stück beschreibt einige Ränke und Kehren, die sich vorschnellen Interpretationen verweigern. Durchaus bewusst und kalkuliert, wie vermutet werden darf. Er nimmt das Bürgerradio auf die Schippe, dessen Redakteure den „restaurativen Bericht“ aus trotzkistischer Optik verdrängen, und er lässt Oskar das Erinnern vergessen. Damit entgeht er dem wohlfeilen Zustimmungsmechanismus und irritiert auch jenes Publikum, von dem er annehmen darf, dass es sein Stück besucht. „Das Elend ist keine Stilfrage“, sagt Wüthrich einmal. Leichte Bekömmlichkeit indessen wäre eine. Bärfuss hat sie auf seine Art gelöst.“ Nachtkritik.de
„Der Regisseur Lars-Ole Walburg hat diese absurde Welt aus greinenden Showmastern, staubbedeckten Archivaren, Knöpfe zählenden Geschichtsprofessoren und abnormen Selbstdarstellern sehr reflektiert als Reigen einer todgeweihten Dekadenzgesellschaft in Szene gesetzt. Das Schlimmste ist, dass am Ende auch die Nazi-Opfer ihre eigene Geschichte vergessen wollen und die Hauptfigur – anstelle der Erinnerung – lauter angeblich nützliche Dinge ins Hirn implantiert bekommt: die chinesische Sprache, Marketing-Strategien, Computerwissen. Das ist gut geschrieben und toll gespielt – da muss man hingehen.“ SWR 2
„Das Ganze wird von Lars-Ole Walburg genüsslich durchexerziert, ohne dass der moralische Kern unter den Tisch fiele. Die Schauspieler brillieren jeweils in diversen Rollen. Robert Schweers Bühne wiederum, vom Publikum und von Tausenden Aktenordnern eingerahmt, ist so überzeugend schlicht wie als Ausdruck für die Bedrängnisse der Vergangenheit angemessen. Sean McDonagh als Protagonist Toni spielt gross auf. Toni ist Lebenskünstler, sensibel, herzensgut und hat die Grenzerfahrung gemacht, fünfundzwanzig Bücher auf den Kopf zu bekommen. Gefallen sind sie aus der Wohnung des Historikers Jean-Michel Blonay (Klaus Brömmelmeier), der über der „Fäkalisierung seiner Persönlichkeit“ und der „hiesigen Identität“ die Sinnlosigkeit des von ihm verantworteten Geschichtswerkes eingesehen hat und nunmehr Knöpfe ordnet. In dieser von Blonays Gouvernante (Ludwig Boettger) wiedergegebenen Resignationsgeschichte steckt der heimliche Höhepunkt des Stückes, denn wie dabei Wahres über den Umgang mit dem Bergier-Bericht und, vor allem, der Vergangenheit gesagt wird, war in dieser Form auf einer Schweizer Bühne überfällig.“ NZZ
„Bühnenbildner Robert Schweer hat aus Tausenden Bundesordnern einen quadratischen Spielraum aufgebaut, in dem das halbe Dutzend Schauspieler Runde um Runde den spielerischen Kampf des Erinnerns gegen das Vergessen ausfechten, einmal komisch, einmal tragisch, ohne moralische Fingerzeige, aber mit subversiver Boshaftigkeit und subkutaner Schärfe.“ Neue Luzerner Zeitung
„„Zwanzigtausend Seiten“ ist ein ebenso dichtes und schillerndes Stück, das seinen Figuren viel abverlangt. Tonys Freundin Lisa wird von Franziska Machens in ihrem hilflosen Opportunismus schön getroffen, während Sean McDonagh vor allem dem naiven Träumer Tony eine wunderbar überzeugende Gestalt verleiht. In den verschiedensten, oft komischen Rollen gefallen Ursula Doll, Klaus Brömmelmeier und Ludwig Boettger. Ein Auftritt von Ludwig Boettger verdient besondere Erwähnung: als schmieriger, leicht mit Hand und Kopf wippender Alternativexistentialist elektrisiert er das Publikum förmlich.“ Nachtkritik.de
„Das Premierenpublikum war tief beeindruckt über die bittere Farce und bedankte sich mit langanhaltendem Beifall.“ seniorweb.ch