Schiffbau/Halle
Premiere am 18. April 2012
Ein Schiff kommt an im Schiffbau: Sein bekanntester Passagier ist Karl Rossmann, „der von seinen armen Eltern nach Amerika geschickt worden war, weil ihn ein Dienstmädchen verführt und ein Kind von ihm bekommen hatte“. Er ist „Der Verschollene“, wie Franz Kafka seinen ersten, unvollendeten Roman von 1914 gemäss einer Briefnotiz betiteln wollte, bevor Max Brod als Titel „Amerika“ durchsetzte. Der Berliner Regisseur Frank Castorf (zuletzt „Die schwarze Spinne. Pilatus' Traum“) hat das Werk neu für die Bühne bearbeitet.
„Nach einer knappen Stunde oben auf dem Atrium-Dampfer, wo das neunköpfige Ensemble zusammen mit dem serbischen Bojan Krstic Orkestar die turbulente Ankunft von Karl in Amerika aufs Deck getobt hat, ziehen wir um in die Schiffbauhalle; und wer dachte, dass sich das Dampfer-Spektakel samt seinen sinnreichen Anspielungen (von „West Side Story“ bis zu Kafkas Suizidfantasien) nicht toppen lässt, wird eines Besseren belehrt. Nun sind wir auf Coney Island: Castorf holt, mit Bühnenbildner Aleksandar Denic, alles aus der Halle heraus, besser, er steckt eine ganze Vergnügungsmeile in sie hinein.“ Tages-Anzeiger
„Frank Castorfs Bühnen-Amerika ist halb qualmende Hotdog-Bude, halb kapitalistische Geisterbahn und ermöglicht, vielmehr: erzwingt rasende Auf- und Abtritte, forcierte Läufe quer über die Bühne, von Beginn an befeuert von der mitreissenden serbischen Blechbläser-Band, dem Bojan Krstic Orkestar. Sieben virtuos, ja akrobatisch agierende Vollblutmusiker, deren starke, wuchtige, alles beflügelnde Musik und mitreissende Bühnenpräsenz in der über vierstündigen Amerika-Revue zum Mass aller Dinge wird, ja Massstäbe setzt.“ Deutschlandradio Kultur
„Zu sehen ist auf der ganzen Länge des Saales die Stahlkonstruktion einer Hochbahntrasse, angestaubt, schmuddelig und mit sorgfältig aufgetragener Patina. Viel Gerümpel überall, eine fahrbare Hot-Dog-Bude und ein altes Campermobil. Dazu noch zwei Mini-Kuben, in denen sich hausen lässt, einsehbar durch die Castorf-typischen Videoaufnahmen. Ein vielschichtiges Labyrinth, in dem unser einfacher Karl Rossmann untergehen kann. Er taumelt von einer albtraumhaft-kafkaesken Sequenz in die nächste. Ob als Liftboy im Luxushotel, im obskuren Naturtheater Oklahoma, im mysteriösen Landhaus des Onkels oder an der ausladenden und vereinnahmenden Brust der Schauspielerin Brunelda – die Möglichkeiten sind unbegrenzt, wie die Stadt. Kafkas „Schloss“, das ist auch New York.“ Südkurier
„Es ist ein wildes Theaterfest, ein grandioses Scheitern an der Unmöglichkeit, das Unvollendete zu fassen. Die schwammige Fettleibigkeit, zu der aufgebläht Irinia Kastrinidis als Brunelda zur serbischen Blaskapelle tanzt, fasst es ins Bild. Oder Robert Hunger-Bühler als Delamarche und Gottfried Breitfuss als Robinson im klapprigen VW-Bus: Das ist derbes und handfestes Schauspielertheater bei höchster Lautstärke, mit der Kraft der Übertreibung, die die Wahrheit kenntlich macht. Nach viereinhalb Stunden singt das Bojan Krstic Orkestar ein trauriges Lied, das den schweren, wollüstigen Theatertraum auflöst. Im Scheitern wird er dem Fragment auf seine Weise gerecht.“ Neue Luzerner Zeitung
„Aber wie auf der Fahrt der Titanic gibt es vor dem Untergang immer wieder Glanz und Gloria, Pauken und Trompeten, Rambazamba und rasend gute Schauspielerleistungen – vor allem von Marc Hosemann, der als Karl Rossmann genau diese Mischung aus Hans im Glück und Hanswurst, aus Trottel und tragischer Gestalt hinbekommt, die schon bei der Lektüre des Buchs ans Herz greift.“ Tages-Anzeiger
„Wie Lilith Stangenberg in ihren wechselnden Flitterkostümen als Objekt der Begierde – mal heisst es Klara, mal Therese – ganz ausdifferenzierte Pop-Posen der Weiblichkeit markiert und sie zugleich der Künstlichkeit überführt, ist grossartig. Und wie der holzschnittartige Marc Hosemann und der zweite Karl, der fragile-agile Patrick Güldenberg, Karls Elend, dass Selbstverwirklichung in Amerika Selbstausbeutung heisst, ganz unterschiedlich und doch scheinbar ganz echt gelebt umsetzen, wie sich aus dieser Zweiteilung erst eine Harmonie der Figur ergibt, das hat schon Klasse.“ Süddeutsche Zeitung